Die, die ihr seid
Ich bin ein Schwein, du bist ein Schwein, er ist ein Schwein. "Ich kenne
Dich" sagte sie, "ja, ich kenne Dich." Sie sagte immer "ich kenne Dich", heute,
gestern, vorgestern, jeden Tag. Ein paar mal. "Du bist ein Schwein, Du bist ein
großes Schwein", das sagte sie auch. Große Schweine sind viel schweinischer
als kleine Schweine. Aber das macht nichts. Sie waren einfache Leute und sprachen
nie viel miteinander. Er küßte sie und dachte, sie ist auch ein Schwein,
ein noch viel größeres Schwein. Er sagte: "Versuch doch nicht, den
Wal über die Grenze zu schmuggeln", das war seine neue Redensart. Wenn er
etwas für unsinnig hielt, sagte er immer: "Versuch doch nicht den Wal über
die Grenze zu schmuggeln". Und sie sagte wieder "Ich kenne Dich ja" und sie setzte
das Ja immer dann an den Schluß, wenn sie nervös war, und fügte
schmeichelnd hinzu "nicht wahr?" "Er wird sich nie ändern", dachte sie und
umarmte ihn. Sie küßte ihn und küßte ihn nochmals und hoffte,
dass er ihr das Geld gäbe, und darum küßte sie ihn nochmal und
fragte ihn, ob er ihr nicht das Geld geben könne, und sie umarmte ihn ganz
fest und freute sich auf das Gesicht der Freundin, wenn sie sie im neuen Mantel
sehen würde. Er haßte diese Art und dachte, sie ist wie zwei Schweine,
ja, sie ist wie zwei Schweine, aber er gab ihr das Geld, der Ruhe wegen. "Der
Wurm kreischt in der Blechbüchse", meinte er und setzte sich vor den Fernseher.
"Was hast Du heute gemacht?" fragte sie. Er nahm die Zigarette aus dem Mund: "Ich
habe die Aufseher von Block A beaufsichtigt", er redete nicht gerne über
seine Arbeit und wendete sich wieder dem Programm zu: "Ehre und Partei", dritte
Folge. Er musste sie sehen, hatte er sich doch mühsam aus der elften in die
neunte Tracht hinaufgearbeitet, hatte es also weit gebracht in seinem Leben, er,
ein Opportunist. Drei Ertragsstufen hat er in der Neunten schon erklommen und
man hat ihm eine gute Frau zugeteilt. In zwei Monaten würde er wieder eine
neue bekommen, wenn er sich jetzt bewährte, jetzt, wo der Sekretär wegen
Nichtbeachtung der Flurregeln in die Zone 17 kam, - eine aus der 3-B-Anstalt,
das würde seine vierte sein. Die, die er jetzt hatte, war eozym, er würde
dafür sorgen, dass sie in ein R-Lager käme. Das entspricht ihrer Intelligenz
und ist nicht so streng wie ein Arbeitslager.
Und da war da noch sein Sohn, man hatte ihm nur einen gelassen, er
würde demnächst wieder nach Hause kommen dürfen, er wurde
klassifiziert, einen Monat lang. Hoffentlich hat er gut abgeschnitten.
Er selbst weiß nur zu gut, wie schwer es ist, wenn man einen niederen
Grad erwischt. Er erinnerte sich genau, und sie, sie fiel ihm
natürlich auch sofort wieder ein, die Mutter dieses Sohnes, er konnte
sie nicht vergessen, ja, er liebte sie, aber das war heutzutage
verpöhnt, ja geradezu gefährlich, Liebende wurden verachtet,
verspottet, bestraft, sie waren einfach nicht gesellschaftsfähig, wer
liebt sündigt. Zum Schluß kamen sie ja doch alle ins Labor.
"Träumst Du?" seine Frau riß ihn aus der Gedankenwelt, die Sendung
war schon fast zu Ende und er hatte nicht aufgepasst. Er würde morgen
eine gute Ausrede brauchen, um nicht aufzufallen. Dass gerade ihm das
passieren muss, ausgerechnet jetzt, wo soviel auf dem Spiel steht. Es
wird bestimmt wieder heiß diskutiert werden. "Ich hab mit meiner Frau
geleibert", war wohl die einzig mögliche Erwi-derung, die ihm im
Moment einfiel. Denn es gab zur Zeit nur ein Thema, die bevorstehenden
Wahlen. Die Fernsehsendung handelte natürlich auch davon, denn es
war eine Sensation im Gange: Schulz versuchte Jesus zu stürzen,
überall waren seine Parolen zu vernehmen:
WÄHLEN SIE SCHULZ UND SIE WISSEN, WAS GUT UND BÖSE IST!
WÄHLEN SIE SCHULZ, SO WERDEN SIE SATT!
WÄHLEN SIE SCHULZ, DANN WERDEN SIE WOHLHABEND!
WÄHLEN SIE SCHULZ UND SIE SIND FREI!
WÄHLEN SIE SCHULZ UND SIE WISSEN WIE SCHÖN DIE WELT IST!
WÄHLEN SIE SCHULZ UND SIE LERNEN DAS PARADIES KENNEN!
WÄHLEN SIE SCHULZ UND SIE SIND GLÜCKLICH!
WÄHLEN SIE SCHULZ UND SIE WERDEN JEDES SPIEL GEWINNEN!
WOLLEN SIE LÄNGER LEBEN, WÄHLEN SIE SCHULZ!
WOLLEN SIE KLÜGER WERDEN, WÄHLEN SIE SCHULZ!
WOLLEN SIE SEIN WIE GOTT, WÄHLEN SIE SCHULZ!
SCHULZ HEIßT LEBEN, JESUS HEIßT STERBEN!
Schließlich ist Jesus ja schon mal gestorben. Schulz war der Neue.
Der andere war Jesus der XXVIII. Ab und zu versuchte jemand die
Demokratie zu stürzen, wie dieser Schulz jetzt. Alle zwanzig Jahre
waren Unruhen, immer acht Tage vor dem Gesundheitsball. Alle zwanzig
Jahre. Denn die Wahlen waren auch alle zwanzig Jahre, immer ein Tag
vor dem Gesundheitsball, ein Jesus wurde immer auf zwanzig Jahre
gewählt, alle zwanzig Jahre. Jesus war der Vorsitzende der Christen,
der einzigen Partei. Somit war die ideale Demokratie endlich erreicht
worden. Alle dachten gleich. Das heißt, man brauchte nicht mehr
soviel zu denken, die Partei dachte schließlich für jedes seiner
Mitglieder, das war gerade der große Vorteil, die Qual der Wahl fiel
weg, die Unsicherheit einer Entscheidung wurde einem genommen, das
Gewissen wurde nicht belastet, man konnte sich voll und ganz auf die
Arbeit konzentrieren.
Es waren fast alle in der Partei, wer nicht in der Partei war, war
kein Mensch, außerdem waren das schon von vornherein Aspiranten für’s
Labor und wer will schon dorthin? Man kam schnell ins Labor. Und
keiner kam wieder heraus, nur die Wissenschaftler, die gingen hinein
und kamen wieder heraus, denn die waren nötig. Außerdem waren sie
alle in der Partei. Alles gute, fromme Christen. Verbrecher wurden
erst aus der Partei ausgeschlossen, bevor sie ins Labor kamen, denn
das war ein Grundsatz der Partei: "Wir bürgen für Ihre Sicherheit,
kein Parteimitglied kommt ins Labor!" Das war schon sehr beruhigend
und lockte und überzeugte dann doch die letzten Zweifler. Wer das
nicht einsah, war krank, geistig krank. Und Kranke waren für den
Arbeitsprozess hinderlich, waren für die Gesellschaft untrag-bar.
Den einzigen Nutzen, den sie der Gesellschaft noch bieten könnten,
wäre der Weg ins Labor. Das war gleichzeitig eine gesunde und
natürliche Auslese für die fortschrittliche Menschheit. Im Labor
dienten sie zu Versuchszwecken, die Toten kamen schließlich auch
dorthin, bevor sie ins Fernheizwerk kamen. Aber etwas Genaues war da
nie zu erfahren, war auch nicht nötig.
Der Schulz wurde von seinen Anhängern "Papst von China" genannt und
die drei großen Päpste, das Syndikat für Umordnungen, setzten sich
immer mehr durch. Früher noch eine Untergrundorganisation, heute
schon eine um ihr Recht kämpfende inoffizielle Gruppe, die immer mehr
Zulauf bekam. Sie war verboten. Doch wenn sie stark genug würde,
könnte sie den Christen unangenehmer werden, als ihnen lieb ist.
Vielleicht sogar stürzen, diesmal könnte es ihnen gelingen, es wäre
das erste mal, seit Weber. Die Päpste hatten es schon mit Diplomatie
versucht. Sie kamen nie wieder aus dem Konferenzraum. Es waren
allerdings nur zwei. Selbstmord hieß es in den offiziellen
Erklärungen.
"Wach auf!" Er schreckte auf. "Weißt Du", sagte er, "sie werden
meinen Vorschlag bei der Partei in ihr Programm aufnehmen, schön
nicht?" "Ja", - sollte sie nun doch lieber den dunkelblauen mit dem
Pelzkragen nehmen, - aber die Taille. "Meinst Du, soll ich die
Parole dazu auch gleich vortragen?" "Welche Parole?" - "Na die zu
meinem Vorschlag!" - "Was für ein Vorschlag?" - "Sag mal, hörst Du
mir überhaupt zu?" - "Ja natürlich!", gleich würde es klingeln.
Es klingelte. Er erhob sich, ging zur Tür und öffnete. Zwei Herren in
weißen Kitteln standen ihm gegenüber, LABORDIENST stand auf ihren
Plaketten. Er wurde höflich gebeten, in ihren Wagen einzusteigen. Er
ging. Er konnte auch nicht wissen, dass sie eine Spezialagentin der
Päpste war, die den größ-ten Teil des Labordienstes schon auf ihrer
Seite hatten und er schon lange auf ihrer Liste stand. Er ins Labor,
für ihn ein Rätsel, über das er nicht mehr lange nachzudenken
brauchte. Sie lächelte, als ihr sein Vorschlag für die Partei einfiel:
"Christen zeugen Christen, schon bei der Geburt ein Christ",
automatisch. Man wird als Parteimitglied geboren, herrlich!
zurück