Zeitermüdung

Die Zeit ist müde geworden, meine Zeit. Teufel sei Dank, gibt's viele Zeiten! Deine Zeit ist anstrengend. Mit mir.
So sitze ich in meiner Einzelzelle, isoliert, bekomme keinerlei Information über meine Umwelt, kenne nichts von anderen Gefangenen, bekomme keinen Besuch.
Doch einen Freund weiß ich außerhalb dieser Mauern, das gibt mir Kraft, gibt mir die Gewissheit, in der ärgsten Stunde nicht allein zu sein: "Bis dass der Tod Euch scheidet".
Und diese meine Zelle will mich nicht verlassen, ich trage sie mit mir herum, wie meine Lunge, unentfernbar, gibt sie mir doch die Möglichkeit am Leben zu bleiben. Dass ich allein in der Zelle bin und lebe, zeigt, dass ich stark bin, so ist es oft in der Natur, Starke leben einzeln, Schwache rotten sich zusammen. Denn es wird verteidigt, was einem lieb und wert ist.
Stark in meiner Zelle. Neben mir schläft meine Zeit. Sie scheint zu träumen und so finde ich die Muße - sie ist von edler Gestalt, sensibel - mich meinen Gedanken hinzugeben, während sie von mir Besitz ergreift, zart, unaufdringlich, meinen einzelnen Regungen folgend.
Sie kennt keine Eifersucht, kennt keinen Zorn, weder auf meine Gedanken noch auf meine Regungen, nur mit der Zeit hat sie ab und zu Probleme, doch die schläft ja gerade.
Sind wir doch nur Abbildungen höher geformter Strukturen, bedingt, gedacht, verdacht. Stellt nicht unser Dasein nur ein Verfahren zum Verfahren auf kreisrunden Plätzen dar?
Mit meiner Lunge in meiner Zelle erfahre ich, dass ich mich ganz wesentlich von anderen unterscheide, ich bin nämlich ich, - und kein anderer! Ich habe auch nicht die Fähigkeit, gleichzeitig jemand anderer zu sein. Wenn das stimmt und gleichzeitig das Sterben dieses Ich-Gefühl auslöscht, so bin ich tot. Die Individualbeziehung ist erloschen. Es ist jedoch denkbar, dass eine globale Wir-Beziehung bzw. ein Zustand der Es-Beziehung entsteht, so, dass kein Selbstbezug mehr vorhanden ist. Reicht mein Ich dem Tod die Hand, vollziehe ich einen Ich-Es-Wechsel. Sollte Bewußtsein vererbbar sein, so geht mein Ich nicht total verloren, es existiert weiter in meinen Kindern, in den Gedanken derer, die an mich denken. Doch ist es müßig darüber zu grübeln, denn nach meinem Ableben kriege ich vom weltlichen Geschehen wahrscheinlich nichts mehr mit. Ich brauche also nicht nach Hab und Gut zu streben, keine Berühmtheit erlangen zu wollen, weil ich in hundert Jahren nichts mehr davon habe.
Ich löse mich aus der Umarmung meiner Gedanken, die Muße weicht zurück, die Zeit erwacht.
Sie hat geträumt von mir, kann sich aber an nichts erinnern.
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